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2.1

Der Kontext der 1950er Jahre: Zerreißprobe für die Welt

A

Anfang der 1950er Jahre. Die Welt ist ausgeblutet und erholt sich gerade erst von einer der größten Tragödien ihrer Geschichte: dem Zweiten Weltkrieg.

Auf den Schrecken der Entdeckung der Konzentrationslager folgt eine Zeit der Infragestellung von Gewissheiten, der Orientierungslosigkeit und der Angst – bedingt durch die Teilung der Welt in Ost und West. Unter den Siegern des Krieges streben zwei Supermächte auf: die USA und die Sowjetunion (UdSSR). Ab 1947 sind die Spannungen zwischen den beiden und ihren jeweiligen Verbündeten spürbar, und die Welt schlittert allmählich in den „Kalten Krieg“. Die USA und die UdSSR teilen sich die Welt, was der Bau der Berliner Mauer – und damit die Zweiteilung Deutschlands – konkret demonstriert.

Anonym, Im Warschauer Ghetto zwingen deutsche Sturmtruppen Bewohner jeglichen Alters mit erhobenen Händen vorwärts – während des Aufstands im Warschauer Ghetto, Deutschland, Mai 1943

Anonym, Zwei junge Männer werfen in einem ungleichen Kampf Pflastersteine auf einen sowjetischen Panzer in der Leipziger Straße in Ost-Berlin, Berlin, Deutschland, 17/06/1953 © PICTURE ALLIANCE / AKG-IMAGES

Ralph Crane, West-Berliner Polizisten drängen Menschenmengen zurück, die auf der Suche nach Nahrung und Kleidung aus Ost-Berlin gekommen sind, Deutschland, 1953, Time & Life © Getty Images

Ohne sich je direkt zu bekriegen, fordern sich die beiden Mächte heraus, insbesondere im Hinblick auf die Atombombe. Im Wissen um deren militärische und abschreckende Wirkung beginnt der Atom-Wettstreit, bei dem beide Nationen versuchen, sich die stärkste aller Waffen zu verschaffen. Im Jahr 1949 besitzen sie sie alle beide. Und die Gefahr eines neuen Konflikts, der noch zerstörerischer ist als alles, was die Menschheit bis dahin erlebt hat, schwebt wie ein Damoklesschwert über der gesamten Welt.

Während also die Zeit des Wiederaufbaus, des Babybooms und des Wirtschaftswunders gekommen ist, stellen sich Freude und Sorglosigkeit nur äußerst langsam ein. Als Reaktion auf dieses verhängnisvolle Klima strukturieren sich in der westlichen Welt Jugend und Adoleszenz als eigenständige Lebensphase zwischen Kindheit und Erwachsensein: Die Schulzeit wird länger, der Einfluss der USA bringt Jeans und neue Musikstile wie den Rock 'n' Roll.

Lou Bernstein, USA, 1949

Ralph Crane, Heißer Unabhängigkeitstag am Strand: junges Paar kuschelt im Sandloch, während andere hinter ihnen herumliegen, Santa Monica, Kalifornien, USA, 1950, Time & Life © Getty Images

Die Konsumgesellschaft entwickelt sich schnell, und die jüngeren Generationen rebellieren gegen die Autorität ihrer Eltern und Regierungen, denen sie vorwerfen, die Welt ins Grauen gestürzt zu haben. Manche lehnen sich auf und treten ein gegen jede Form von Segregation, insbesondere in den USA. Sie prangern Ungerechtigkeiten an, lehnen Ungleichheiten ab und rufen zum Pazifismus auf. Stärker als die älteren Generationen, die noch die Erinnerung an den Krieg in sich tragen, verkörpert die Jugend das „Nie wieder“.

2.2

Das goldene Zeitalter des Fotojournalismus und der Illustrierten

In dieser Zeit, da der Mensch und sein Platz in der Welt hinterfragt werden – was untrennbar mit dem historischen Kontext verbunden ist – setzt sich der Fotojournalismus als ideales Mittel durch, um die Welt und ihren Zustand zu beleuchten. Zudem macht er auf die großen Bewegungen aufmerksam, die sie in Unruhe versetzen. Die Ursprünge dieser Art von Reportage gehen auf das Ende des 19. Jahrhunderts zurück, als man möglichst real über die bewaffneten Konflikte berichten wollte.

Michael Rougier, Südkoreanische Jugendliche demonstrieren gegen Waffenruhe, 1953, Sudkorea, Time & Life © Getty Images

David Duncan, Portrait von Captain Ike Fenton der U.S.-Marine während des Korea-Krieges – Nakdonggang-Perimeter, Korea, 1950, Harry Ransom Center The University of Texas at Austin

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Die ersten Fotoreportagen

Im Jahr 1856 hält die Fotografie als Mittel der Kriegsberichterstattung Einzug in die Presse mit Aufnahmen des englischen Fotografen Roger Fenton zum Konflikt auf der Krim. Der französische Fotoreporter François Aubert erstellt eine wichtige Fotodokumentation über den Mexikanisch-Amerikanischen Krieg, und der Amerikaner Mathew Brady macht fast 8000 Aufnahmen vom Sezessionskrieg in den USA. Eine dieser Aufnahmen wird übrigens in das Projekt „The Family of Man“ übernommen und ist damit das älteste Bild der gesamten Ausstellung. Aber die Ausrüstung ist schwer, die Fotoapparate wiegen bis zu 40 kg und sind unhandlich, um in Kriegsgebiete transportiert zu werden oder Armeen zu folgen. Die zum Erhalt eines mehr oder weniger scharfen Bildes erforderliche Belichtungszeit beträgt 5 bis 10 Minuten, was die Fotografen auf der Jagd nach Schnappschüssen oder Aufnahmen in Bewegung ausbremst. Aufgrund der anfänglichen Einschränkung durch das für diese Arbeit ungeeignete Material ist die breite Nutzung der Fotografie in den Medien erst in der Zwischenkriegszeit zu beobachten. Ihre Entwicklung wird insbesondere durch die Vermarktung der Leica-Kamera Mitte der 1920er Jahre vorangetrieben. Kompakt, handlich und ganze 377 g schwer – so macht sie intuitive Fotografie am Ort des Geschehens möglich.

Mathew Brady, Konföderierter Soldat aus Ewells Korps, der bei den Angriffen des 19. Mai (Bürgerkrieg) getötet wurde, USA, 1864

In der Zwischenkriegszeit verhilft der technische Fortschritt in Presse und Fotografie letzterer zu einer Vervielfältigung und Verbreitung in hoher Stückzahl und trägt so zum Boom des Fotojournalismus bei. Die Aufträge für Fotoreportagen werden zahlreicher, um die Erwartungen eines Publikums zu erfüllen, das in erster Linie „sehen“ und „ganz nah dran“ sein will. Aus dieser Motivation heraus entstehen illustrierte Zeitschriften, in denen die Bilder von den großen Ereignissen der Welt eine zentrale Rolle spielen: Regards, Vu, LIFE, Picture Post, Fortune oder auch Paris-Match.

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Die Zeitschrift LIFE

LIFE wird 1936 zur emblematischen Wochenzeitschrift mit Schwerpunkt Fotojournalismus, die über das gesamte 20. Jahrhundert einen bedeutenden Stellenwert hat. Sie deckt sämtliche Themen ab, von brandaktuellen Nachrichten bis Kunst, und bringt damit klar zum Ausdruck, dass sie ein Zeugnis des Lebens, der Welt und der Ereignisse in Bildern ablegen will – eine Revolution im Journalismus. Das Magazin arbeitet mit den größten Fotografen seiner Zeit, wie Alfred Eisenstaedt, Margaret Bourke-White, Robert Capa, Andreas Feininger, Lee Miller, Nina Leen, Burk Uzzle …, die zum Großteil auch bei „The Family of Man“ mitgewirkt haben.

Es werden Fotoreporter zum Ort des Geschehens geschickt. Die Aufnahmen, die dort entstehen, machen manche unter ihnen zur Legende: Robert Capa, Gerda Taro, Henri Cartier-Bresson, David Seymour …

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Die Agentur "Magnum Photos"

Die Fotoreporter organisieren sich in Fotopresseagenturen. Die bekannteste wird 1947 von Robert Capa, Henri Cartier-Bresson, George Rodger und David Seymour unter dem Namen Magnum Photos in Form einer Genossenschaft gegründet, die ausschließlich ihren Fotografen gehört. Dies garantiert die vollkommene Unabhängigkeit der Mitglieder, eine große Freiheit bei der Auswahl und Bearbeitung der Reportagen sowie ein Exklusivrecht der Fotografen an ihren eigenen Aufnahmen. Sie alle glauben an die Macht der Bilder, die Welt zu erzählen, Kontinuität und Wandel zu beleuchten und eine Bewusstseinsbildung anzustoßen, die für das reibungslose Funktionieren der Gesellschaft unabdingbar ist.

Der sich entwickelnde Fotojournalismus basiert auf zwei Aspekten: Der Wunsch, die Realität in all ihrer Objektivität zu zeigen, geht einher mit dem Bedürfnis der Fotoreporter, ihre eigene Vision der Menschheit zu illustrieren. Alle arbeiten sie früher oder später für die Presse – in einer Zeit, als das Fernsehen noch nicht in allen Häusern Einzug gehalten hat und die Illustrierte das Medium schlechthin ist, um Informationen, Ideen und Erfahrungsberichte zu vermitteln. Demnach konzentrieren die Fotoreporter ihre Arbeit auf eine Art von Fotografie, die sich nicht länger als reine Informationsquelle versteht, sondern als Mittel der Kommunikation und Teilnahme an den großen Debatten, die die Welt beschäftigen.

Margaret Bourke-White, South Africa, Time & Life © Getty Images

Henri Cartier-Bresson, Am Morgen nach seiner Ermordung ist Ghandis Leichnam im Birla-Haus aufgebahrt, Delhi, Indien, 1948 © Magnum

Für mich ist Fotografie die im Bruchteil einer Sekunde sich vollziehende Erkenntnis von der Bedeutung eines Ereignisses und gleichzeitig die Wahrnehmung der präzisen Anordnung der Formen, die dem Ereignis seinen typischen Ausdruck verleihen.

Henri Cartier-Bresson

Vor diesem Hintergrund nimmt die Idee von „The Family of Man“ Gestalt an. Stark beeinflusst von seiner Erfahrung als Kriegsfotograf, schöpft Edward Steichen alle Möglichkeiten des Fotojournalismus und seiner beruflichen Netzwerke aus, um seinem Projekt Leben einzuhauchen. Er orientiert sich am Ansatz der Bildredakteure, macht den Job eines Reporters in der Welt der Fotografie und wählt Bilder aus den Archiven der Presseagenturen aus. Darüber hinaus erdenkt er eine Szenografie, die an das Layout der damaligen Illustrierten erinnert.

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